Реферат: Zusammenspiel der Realiatete als eines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman "Stiller" von Max Frisch

MoskauerStaatliche Linquistische Universitaet

Lehrstuhl fuer Lexikologie

und Stilistik der deutschenSprache

Diplomarbeit

Das Zusammenspiel der Realitaeten alseines der Hauptprinzipien des Sujetaufbaus im Roman von Max Frisch«Stiller»

eingerichtet von IrinaSizikova

Moskau 2003

Inhaltsverzeichnis

Einleitung………………………………………………………………….3

Kapitel I.Der Roman «Stiller» im Schaffenvon Max Frisch. Problematik und Strukturelle Besonderheiten desRomans……………………………………………6

1.<span Times New Roman"">    

Max Frisch, Biographie, kurzerUeberblick……………………………………6

2.<span Times New Roman"">    

Der Roman «Stiller im Schaffen von Max Frisch.Identitaetsproblematik in „Stiller“? „Homo Faber“,»Mein Name sei Gantenbein"……………………..8

3.<span Times New Roman"">    

Strukturelle Besonerheiten des Romans«Stiller» und die Haltung des Erzaehlers im Roman…………………………………………………………...11

3.1<span Times New Roman""> 

Aufbau des Romans ……………………………………………………………..13

3.2<span Times New Roman""> 

Form und Funktion des Tagebuchs………………………………………………14

3.3<span Times New Roman""> 

Erzaehlsituation undErzaehlhaltung……………………………………………..16

Schlussfolgerung…………………………………………………………………….20

Kapitel IIZusammenspiel derRealitaeten………………………………………..22

1.<span Times New Roman"">      

Der Begriff der textwirklichkeit, Fiktionalitaet undVirtualitaet im literarischen Text………………………………………………………………..22

2.<span Times New Roman"">      

Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in«Stiller»…………………………27

2.1<span Times New Roman""> 

Erzaehlte Geschichten……………………………………………………………29

2.2<span Times New Roman""> 

Parabolische Geschichten………………………………………………………...32

2.3<span Times New Roman""> 

Traeume…………………………………………………………………………..36

3.<span Times New Roman"">      

Der amerikanische und der schweizerische Text imRoman. Versuch einer vergleichenden Analyse…………………………………………………………44

3.1<span Times New Roman""> 

Die raeumliche Perspektive………………………………………………………46

3.2<span Times New Roman""> 

Die zeitliche Perspektive…………………………………………………………48

3.3<span Times New Roman""> 

Stilebene………………………………………………………………………….52

Schlussfolgerung………………………………………………………58

Literaturverzeichnis…………………………………………………..62

Einleitung

Das Anliegen der vorliegendenForschungsarbeit besteht darin, das Phaenomen des Zusammenspiels derTextrealitaeten im Roman «Stiller» zu erlaeutern. Der Roman zeichnetsich durch komplizierten Aufbau, Fehlen der einheitlichen Erzaehlperspektiveaus, was die Rezeption des Werkes fuer den Leser zu keiner einfachen Aufgabemacht.

Das veranlasste uns dieTextwirklichkeit zu erforschen und uns mit dem Zusammenspiel verschiedenerTextschichten auseinanderzusetzen.

Die Textwirklichkeit des Romas stelltin sich keine Ganzheit dar. Sie besteht aus vielen 'Kaestchen', die in dieHauptkonstruktion eingebaut sind. Viele Sprachwissenschaftler setzten sich mitdiesem Textphaenomen auseinander (Padučeva 1996; Lotman 1970; 1981;Hamburger 1977; 1979; Rudnev 1996 und andere).

Es handelt sich dabei um autonomeTextteile wie Traum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in der Ezaehlung undaehnliche Erscheinungen, die in das Textganze eingebettet sind. Im Rahmen dervorliegenden Forschung sind diese Textfragmente in der Hinsicht von Interesse,dass ihre Wechselbeziehungen und Gegenueberstellung zum wesentlichen Elementdes Zusammenspieles der Realitaeten wird.

Das Objekt der Forschungist der Roman von Max Frisch «Stiller». AlsGegenstandder Forschung treten Mittel und Instrumente auf, die zu Signalen derUmschaltung und des Spieles zwischen Fakt und Fiktion werden.

Das sind unter anderem:

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  Traeume

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  Die vomProtagonisten erzaehlten Geschichten

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  Die zeitlicheund raeumliche Perspektive im Roman

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  Sprache undStil

Die vorliegende Arbeit setzt sichdementsprechend zum Ziel moegliche Wechselbeziehungen zwischen Realitaeten imRahmen eines fiktionalen Textes am Beispiel des Romans von Max Frisch«Stiller» zu erlaeutern.

Damit dieses Ziel erreicht wird, sindfolgende Aufgaben im Rahmen dieser Forschung zu loesen:

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Architektonik, Erzaehlhaltung, Mehrschichtigkeit desTextganzen, somit Aufbau und Tagebuchform zu beschreiben

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Den Einfluss dieser Faktoren auf den Effekt desZusammenspiels der Textrealitaeten zu betrachten

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Einige Mechanismen des Zusammenspieles der Realitaetenzu erforschen und konkrete Mittel auszusondern, die vom Autor eingesetzt sind,um diesen Effekt zu schaffen.

Das Ziel und Aufgaben haben dasForschungsverfahren bestimmt. Das ist:

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Die Kontexteanalyse

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Analyse der mikro- und makrostilistischen Kategorien

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Vergleichende Analyse der Textfragmente

Die Strukturder Arbeit ist von gesetzten Zielen und Aufgabengepraegt. Die vorliegende Diplomarbeit besteht aus einer Einleitung, zweiKapiteln, einer Zusammenfassung und einer Bibliographie.

Die Einleitungist vorwiegend dem Forschungsthema, den gesetztenZielen und Aufgaben gewidmet.

Das erste Kapitel handelt vonder Position, die der Roman im Schaffen von Max Frisch einnimmt, und vom Thema,das der Roman beinhaltet. Ausserdem wird in diesem Kapitel der Begriff«Offenheit» des literarischen Textes erlaeutert und es wird bewiesen,dass diese Erscheinung nachstehend den Aufbau und die Form des Romans praegt.Von Bedeutung ist in diesem Teil auch die Erklaerung des Begriffs «Erzaehlsituation».

Das zweite Kapitelist dem Phaenomen «Zusammenspiel derRealitaeten» gewidmet.

Im Laufe der Forschung wird aus zweiSichten gezeigt, welche Mittel und Instrumente zum Effekt des Zusammenspielesbeibringen.

In diesem Kapitel werden solcheErscheinung wie «Text im Text» und «virtuelleTextwirklichkeit» untersucht.

Das Miteinbeziehen von der freudschenTheorie der Traumdeutung und Belletristik setzt sich zum Ziel in diesem Teilder Forschung die Analyse durchsichtiger zu machen.

Im Rahmen des Forschungsthemas werdenzwei im Roman dargestellte «Welten» gegenuebergestellt und es wirdbewiesen, wie die Opposition 'die Schweiz- Amerika' zum Instrument desZusammenspieles wird.

Dabei werden zeitliche und raeumlichePerspektive, Sprache und Stil der Beschreibung dieser zwei Laender miteinanderverglichen und einander gegenuebergestellt.

In der Zusammenfassung werdenSchlussfolgerungen gezogen.

I.<span Times New Roman"">                 

Der Roman«Stiller» im Schaffen von Max Frisch. Problematik undstrukturelleBesonderheiten des Romans

1. Max Frisch, Biographie. Kurzer Ueberblick

MaxFrisch wurde am 15. Mai 1911 in Zuerich als Sohn eines Architekten geboren. AufDraengen seines Vaters hin, begann er 1931 nach dem Abitur in seinerHeimatstadt ein Studium der Germanistik. Aus finanziellen Gruenden mußteer zwei Jahre spaeter, nach dem Tod seines Vaters das Studium abbrechen undarbeitete als freier Journalist. Im Rahmen dieser Taetigkeit fuehrten ihnReisen in die Tschechoslowakei, nach Polen, Frankreich, Bosnien, Griechenlandund schließlich bis ans Schwarze Meer und nach Konstantinopel. 1934entsteht sein erster, von der Balkanreise inspirierter Roman "Juerg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt". Nach seinen ersten schriftstellerischen Versuchengeraet Frisch in Selbstzweifel, er entschliesst sich mit Schreiben aufzuhoeren undverbrennt alle bis dahin entstandenen Manuskripte.

    1936 beginnt Frisch, nachdem er auf Draengen seiner Verlobtenden Journalismus aufgegeben hatte, ein Architekturstudium. Erst 1939 faengt dernunmehrige Frisch wieder an zu schreiben. 1940 Veroeffentlichung von

«Blaetter aus dem Brotsack. Tagebuch einesKanoniers» in dem er seine Erfahrungen im Militaerdienst waehrend desKriegsbeginns verarbeitet.1942 erhaelt er das Architektendiplom (baut u.a. dasLetzigraben Schwimmbad). Er heiratet nun Constanze von Meyenburg und eroeffnetmit ihr zusammen ein Architektenbueroin Zuerich.Die Ehe mit Constanze wird 1959 nach laengererTrennung wieder geschieden.  FortanarbeitetFrischimDoppelberuf als Architekt und Schriftsteller. In der Zeitperiode von 1946 bis 1951 verfasst Frisch Dramen, die dieaktuelle Nachkriegszeit teils thematisieren, teils verfremden: «Nun singensie wieder»(1946),«DieChinesische Mauer»

(1947), «Graf Oedland» (1951).

Frischunternimmt weiter inspirierende Reisen (z.B.Prag, Berlin, spaeter auch die USA, Japan), trifft unter anderem Berthold Brecht, derihn sehr beeinflußte und Peter Suhrkamp (Verlag eroeffnete mit FrischsWerk "Tagebuch 1946-1949"). Der endgueltige literarische  Durchbruch gelingt ihm 1954 mit "Stiller". Das Buch wurde in etliche Fremdsprachen uebersetzt undbrachte dem Autor den «Wilhelm- Raabe- Preis» der Stadt Braunschweig1955, den «Schiller-Preis» der Schweizer Schillerstiftung 1955 sowieden «Welti- Preis fuer das Drama» der Stadt Bern 1956.

 Der nun unabhaengig gewordeneFrisch wechselt haeufig den Wohnsitz, z.B. Berlin, New York, Tessin, kommt aberimmer wieder zurueck nach Zuerich.Mitder Urauffuehrung des Dramas «Herr Biedermann und die Brandstifter»im Zuericher Schauspielhaus erringt Frisch seinen ersten Buehnenerfolg und wirdkurz darauf mit dem Georg-Buechner-Preis ausgezeichnet.  In den 60er Jahren gewinnt Frisch wieder mehr Popularitaet (nach der Entstehungseiner bedeutensten Werke), hauptsaechlich durch Fernsehauftritte, zahlreicheLiteraturpreise und seinem ersten großen internationalen Buehnenerfolg "Andorra".Das Stueck behandelt das Thema Rassismus unter derProblematik des Gebots «Du sollst Dir kein Bildnis machen».

Inden 70ern engagiert sich Frisch nunpolitisch, z.B.alsRednerauf einem Parteitag von der SPD, reist alsBegleiter der Delegation des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt nachChina, nimmt mit F.Duerrenmattam Friedenskongress teil.Gegenlaeufigdazu findet er schriftstellerisch nicht mehr so großen Anklang. Er stirbtim Alter von 80 Jahren am 5.April 1991 in Zuerich, wo er auch geboren ist.Frisch erhielt ungewoehnlich viele Preise z.B. Friedenspreis des deutschenBuchhandels, Schiller Preis von Baden Wuertenberg, Preis der jungen Generationfuer "Andorra"  und andere mehr.

2.Der Roman «Stiller» im Schaffen von Max Frisch.  Identitaetsproblematik in«Stiller», «Homo faber», «Mein Name seiGantenbein»

DieHelden in Max Frischs Werken leiden permanent am eigenen Ich. Max Frisch selbstbezeichnete die zentrale Stellung der Identitaetsfrage und die damitzusammenhaengende Rollenhaftigkeit des Daseins, den Ich-Verlust und die Selbstwahl als sein ,«Warenzeichen».So will der Bildhauer Anatol Stiller, die Titelgestalt des ersten derbedeutenden Romane (1954), ein neuer Mensch mit neuer Identitaet werden und sofrueherem Versagen als Kaempfer auf der Seite der spanischen Republik, alsEhemann und als Kuenstler entfliehen.

Imzweiten der namhaften Romane, "Homo Faber"(1957), geht Frisch von entgegengesetzter Positionans Werk. Walter Faber, Techniker und Ingenieur, moechte an seinemtechnisierten Weltbild, in dem Schicksal und Gefuehle keinen Raum finden,festhalten. Aber er verstrickt sich immer mehr in unwahrscheinliche Zufaelleund irrationale Liebesempfindungen. Auf der Suche nach Erlebnissen, die ihn inseiner Position staerken koennten (glaubt selbst nicht mehr anRollenhaftigkeit), holt ihn schließlich seine eigene Vergangenheit ein:Auf den Spuren seiner Geliebten und eigenen Tochter, Sabeth, begegnet er derWelt, die er verlachte und kehrt wie Stiller zum Ursprung zurueck: auch er istam Ende ein Moerder, auch er allein. Bereits auf den ersten Seiten wird angesprochen: "Ich glaube nicht an Fuegung und Schicksal. Ich binTechniker und gewohnt, die Dinge zu sehen, wie sie sind. Ich weigere mich Angstzu haben."(Faber spielt die Rolle des Technikers konsequentaus).

In«Mein Name sei Gantenbein» (1964) steht die Verwandlung des Lebens inGeschichten im Mittelpunkt. Zu Beginn des Romans montiert der Ich-Erzaehler dieFigur aus dem Koerper eines Mannes aus Paris und dem Kopf eines Amerikanerszusammen, sie erhaelt den Namen Gantenbein. Mit der immer wiederkehrendenFormel «Ich stelle mir vor»(sowie auch Stiller mit «Ich erzaehle ihm eine Geschichte»)probiert Gantenbein nun unablaessig Geschichten wie Kleider aus, wobeiimmer wieder nur eine vorgestellte Welt zugelassen wird. Der Titelfigur bleibtkaum mehr eigene Individualitaet, deshalb bleibt ihr nur das Spiel mitExistenzen, dem Ausprobieren seiner Selbst.

«Stiller» entstand im Jahre1953 und wurde ein Jahr spaeter veroeffentlicht. Als der Roman erschien, hatteMax Frisch vor allem als Theaterautor einen Namen. In kurzer Zeit erreichte derRoman als erstes Buch des Suhrkamp-Verlages eine Millionenauflage.

In einem Gespraech mit Horst Bieneksagte Frisch zur Entstehung:

"Ich war ein Jahr in Amerika, und da ich einStipendium hatte, meinte ich fleissig sein zu muessen. Ich schrieb sechshundertSeiten, die misslangen. Eines Tages, zuhause, tippte ich wie oefters, wenn ichmich langweilte und mich unterhalten muss, ein paar Seiten. Ziellos, frei vondem beklemmenden Gefuehl, einen Einfall zu haben. Nichts geht leichterzugrunde, als ein Einfall, der sich selbst erkennt! Das blieben die erstenSeiten vom «Stiller», unveraendert; das Material, das ich zumWeitertippen brauchte, stahl ich aus den sechshundert misslungenen Seitenruecksichtslos, so dass das Buch nach dreiviertel Jahren fertig war. " (Bienek1969:21)

«Ichbin nicht Stiller»lautet die unerhoerte Aeußerung des Helden mitderderRoman einsetzt. Um dieSchatten der eigenen Nichtigkeit loszuwerden, unternimmt er den Versuch nachlanger Abwesenheit unerkannt und verwandelt in die Heimat zurueckzukehren, dochdies schlaegt fehl. Spaeter kommt der Symbolgehalt des Namens Stiller zumAusdruck. Auf einem Landgut fristet Stiller sein Dasein: verstummt,zurueckgezogen, allein.

Der Roman ist in zweiHauptteile untergegliedert, von denen der erste Teil die «Aufzeichnungenim Gefaengnis» und die zweite Teil das «Schlusswort desStaatsanwalts» beinhaltet.

Die Handlung findet imarchitektonischen Aufbau des Romans ihre Entsprechung. Die zweiHandlungsstraenge ('White-und Stillerhandlung') fuehren am Ende zusammen, denndie Doppelidentitaet Stiller/ White wird zu einer Einheit. Noch weigert sichWhite Stiller zu sein:

"[…]; abermals vergleicht er Zahn um Zahn, wobeisich zeigt, dass Stiller, der verschollene Kunde seines verstrorbenenOnkels, beispielsweise ueber einen tadellosen Achter-oben-rechts verfuegt habenmuss; bei mir ist es eine Luecke."(Frisch 1992: 318)

Dann spricht er jedoch daserste Mal von Stiller in der Ich- Form und gibt schliesslich zu, Stiller zusein.

«Das Urteil, das gerichtliche, wie erwartet: Ichbin (fuer sie) identisch mit dem seit sechs Jahren, neun Monaten undeinundzwanzig Tagen verschollenen Anatol Ludwig Stiller[…]»(Frisch 1992: 381)

«Wielfried Stiller, mein Bruder, habe sichbereits erklaert, den Betrag von Franken 9 361. 05 zu uebernehmen.»(Frisch 1992: 383)

MaxFrisch sagte so ueber sichselbst: Er sei ein defensiver, ein reagierender Schriftsteller. Er erfindetnicht Geschichten, um die Welt zu veraendern, sondern stellt die Welt dar, wieer sie erfahren hat, ohne den moralischen Anspruch zu erheben, Loesungen undVorschlaege zum Bessermachen aufzuzeigen. Im Grunde sei er ein hilfloserSchriftsteller, der schreibt um zubestehen, nicht um zu belehren und waere vielleicht am gluecklichsten,wuerde ihm ein Aufweichen seiner Problemwelt gelingen. Aus seiner Haltung als Schriftsteller resultiert auch die Erzaehlhaltungin seinen Romanen.

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3. Strukturelle Besonderheiten des Romans «Stiller» und dieHaltung des Erzaehlers im Roman

 Literatur entsteht immer in einer«Partnerbeziehung» zwischen Autor und Leser, weshalb der jeweiligeText in jedem Leser neu entstehen soll.

Frischgibt keine fertigen Antworten und  macht deshalb auf das Problem desOffensichtlichen aufmerksam: "...allessagen bedeutet ein Entfernen". Das Offene in der Reproduzierbarkeitbeim Konsumieren eines Textes muß gewaehrleistet bleiben, sonst bleibtdie Gefahr, daß man das«Geheimnis zerschlaegt». Die schriftstellerische Form solltedeshalb eine «stofflose Oberflaeche» bleiben, die es letztlich nurfuer den Geist geben kann.

In seinem Aufsatz «ZwischenAutor und Text» betont Umberto Eco unter anderem, dassder Autorzwar der Urheber des Textesist, aber derText ist nach seiner Entstehung autonom, so dass es Unterschiede zwischen der Absicht des Autors und derTextintention geben kann.Ueber sichselbst als Autor sagt Eco: "DasGeschriebene hat sich von mir abgeloest und fuehrt ein Eigenleben."(Eco 1992: 91). Mit dieser Behauptung verweisst derWissenschaftler auf den Aspekt der Offenheit, die das literarische Werkhinsichtlich der Moeglichkeiten der Entwicklung seiner Handlung aufweisst.

 Das trifft auch die Autorenposition von MaxFrisch. Ein Buch ist fuer ihn nurdannlesenswert, wenn es ausreichend Platz fuer den Reichtum dereigenen Gedanken laeßt. Dieser Gedanke ist verknuepft mit FrischsAbneigung gegen die vollendeten Formen in der Literatur bzw. mit seinem eigenenWeg der Skizzen, Tagebuecher, Berichte. In einer skizzenhaften, unvollendetenForm eines literarischen Textes ist die Gefahr, daß der Autor dem Leserdie eigene Reproduktion durch allzu offensichtliche Vollendung vorenthaelt, undihm dadurch sein eigenes Bildnis aufzwingt, am geringsten. Die Skizze soll nachFrisch nur die Richtung aufzeigen, nicht aber das Ende.

Die von Frisch im «Stiller»gewaehlte Form des Erzaehlens bewirkt, dass der Leser einen sehreingeschraenkten Blickwinkel hat. Daher muss er sich automatisch mehr Gedankenmachen, um von der ersten Seite des Buches an den unbekannten Faden zu spinnenund Verbindungen zwischen den Erlebnissen Stillers zu knuepfen. Die knappeInformation, die der Leser beim Rezeptionsvorgang erhaelt, ergibt Leerstellen,die er mit eigenen Assoziationen, Theorien und Vermutungen fuellt, welchejedoch auch zerstoert werden und zu neuen Ueberlegungen veranlassen. Durch diegewaehlte Romanform wird der Leser aktiv, er muss sich permanent mit demwechselhaften Erzaehlvorgang auseinandersetzen. Die multiperspektivischeDarstellung der Personen und Charaktere fuehrt zu vielseitigen Moeglichkeitender Interpretation. Der Leser muss sich sein eigenes Bild machen, in dem er sichkritisch und distanziert mit dem Erzaehler und dessen Eigenartenauseinandersetzt.

Die Offenheit der Struktur des Romansmacht den modernen Roman, so wie ihn Max Frisch entstehen laesst, ueberhauptmoeglich. Das Losgeloestsein von einer konventionellen Romanform laesst denLeser unvoreingenommen dem Werk entgegentreten und in eine neuartigeMoeglichkeit des Rezeptionsvorgangs eintauchen.

Gerade durch diese Einstellung desAutors zu seinen Werken sind in bedeutendem Ausmass einige Besonderheiten derArchitektonik des Romans zu erklaeren, solche wie Erzaehlhaltung, Aufbau undTagebuchform, Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit.

3.1Aufbau des Romans

Die Form dieses Romans, seine Struktur und seineErzaehlperspektive sind haeufig bewundert worden, so von Friedrich Duerrenmattin seinem «Fragment einerKritik»und von Walter Jens. Eine genaue Untersuchung hatKarlheinz Braun vorgenommen.

Ich möchte zunaechst den ausseren Aufbau desRomans betrachten. Das Buch besteht aus zwei ungleichen Teilen, deren erster,weitaus umfangreicherer, StillersAufzeichnungen im Gefangnis umfasst, waehrend der zweite das Nachwort des Staatsanwalts enthaelt. DieAufzeichnungen im Gefangnis sind wiederum in sieben Hefte gegliedert, derenUmfang im Durchschnitt etwa dem Nachwort des Staatsanwalts entspricht.

Die sieben Hefte des ersten Teils scheinen auf denersten Blick mit den verschiedensten Elementen gefuellt zu sein: LangeRueckblenden stehen neben Gegenwartserlebnissen im Gefaengnis und an denKautionsnachmittagen, die Knobel erzaehlten Abenteuer neben den parabolischenGeschichten, Gespraeche mit Besuchern, Verteidiger und Staatsanwalt nebenTraeumen und Reflexionen des Tagebuchschreibers. Eine genauere Analyse zeigtaber, wie kunstvoll diese scheinbar zufaellig nebeneinander stehenden Teilezusammengefuegt, ne­ben- und gegeneinander montiert sind, so dass sie sichgegenseitig ergaenzen und spiegeln.

Sie folgen aufeinander nach folgendem Prinzip: Die inIchform gehaltenen Erlebnisse des Haeftlings White wechseln alternierend mitdem, was er nach Erzaehlungen anderer (Julikas, Rolfs und Sibylles) zuprotokollieren vorgibt. So fuellt die Darstellung der Ehe Stillers und Julikasdas zweite umfangreichste Heft der Aufzeichnungen, die Ehe zwischen Rolf undSibylle, in der Stiller ja als Sibylles Liebhaber aufgetaucht ist, das vierte,die Liebesgeschichte zwischen Sibylle und Stiller das sechste Heft.

Diese drei Hefte sind also fast ausschliesslich derVergangenheit gewidmet, sie enthalten die Stiller-Handlung. Hefte 1,3 und 5 dagegengeben die Erlebnisse und Gedanken Whites im Gefangnis und in Amerika wieder;diese Hefte stellen die White-Handlung dar. Die Identitaetsspaltung zwischenWhite und Stiller findet in dieser Struktur ihre genaue Entsprechung.

Eine Sonderstellung nimmt das siebente Heft ein: DerTagebuchschreiber weigert sich zwar noch immer Stiller zu sein, berichtet aberandererseits zum ers­ten Male von Stillers Erlebnissen in der Ichform. (vgl.Frisch 1992: 334) Am Ende des siebenten Buches sind mit dem Urteilsspruch Whiteund Stiller identisch geworden, beide Handlungsstraenge sind ineinandergeflossen. Es ist also auch formal konsequent, dass hier die Tagebuchformaufhoert und ein neuer Erzaehler zu Worte kommt.

3.2Form und Funktion des Tagebuchs

Max Frisch bedient sich der Tagebuchform. Diese Formfindet sich haeufig bei Frisch, angefangen von den «Blaettern aus demBrotsack»bis hin zu «Montauk». Die beiden«Tagebuecher1946-1949 und 1966-1971» gehoeren zu seinem schriftstellerischen Werk nicht weniger alsseine Romane, doch ist die Art und Funktion dieser Form nicht ueberall diegleiche.

Auf die Besonderheit und Funktion der Tagebuchform imRoman «Stiller» moechte ich eingehen.

Vom Tagebuch kann man, genau genommen, nur in denHeften mit ungerader Numerierung sprechen. Dort sind Erlebnisse und Gedan­kendes Untersuchungshaeftlings festgehalten, er schreibt in der ersten Person undmeist in der Gegenwart. Die eingeflochtenen Geschichten und die Knobel und demVerteidiger erzaehlten Amerika-Erlebnisse ueberschreiten eigentlich schon denCharakter des Tagebuchs; sie enthalten Rueckwendungen, die dazu bestimmt sind,fuer Mr. White eine Vergangenheit aufzuzeigen. Das Ich, das hier von sichspricht, ist nur eine Fiktion; nur die in der dritten Person gehaltenen Protokolle beschaeftigen sich mit dem'eigentlichen' Ich, dem Titelhelden des Buches.

Die Form des Tagebuchs ist also hier, wie Duerrenmattfestgestellt hat, «die eines fingierten Tagebuchs einer fingierten Personlichkeit,die damit die Behauptung aufrechterhalten will, sie sei nicht eine andere»(Duerrenmatt 1971: 11).

Das trifft allerdings nur auf die ersten Hefte zu. ImSchreiben veraendert sich der Tagebuchschreiber, er setzt sich mit der Rolleauseinander, die er einst gespielt hat und die ihm seine Umgebung wiederaufdraengen will. Kurz bevor er in Ichform von Stillers Vergangenheit schreibt,definiert er die Funktion des Schreibers fuer sich selbst folgendermassen:

«Kannman schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremdersein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewussten Entscheidung, welche Artvon Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich dasGefuehl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrerHaut. Das ist es; man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nurhaeuten» (Frisch 1992:330).

Erst der Prozess der Selbstbesinnung durch dasTagebuch macht Stiller reif fuer seine 'neue Haut', fuer die erste Stufe derSelbstannahme. Aehnlich definiert Frischim«Tagebuch1945-1949» die Funktion des Tage­buchs fuer denSchreibenden:

«Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt mansich zu seinem Denken, das bestenfalls fuer den Augenblick und fuer denStandort stimmt, da es sich erzeugt. Man rechnet nicht mit der Hoffnung, dassman uebermorgen, wenn man das Gegenteil denkt, klueger sei. Man ist, was manist. Man haelt die Feder hin, wie eine Nadel in derErdbebenwarte, undeigentlichsind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreibenheisst: sich selber lesen»(Frisch 1950: 22).

3.3Erzaehlsituation und Erzaehlhaltung

Die besondere Art und Form des Tagebuchs im«Stiller»laesst sich erst ganz verstehen,wenn die Erzaehlsituation undErzaehlhaltung genauer untersuchtwerden. Die Erzaehlsituation ist bestimmt durch Stillers Aufenthalt imGefaengnis.Die Isolation im Untersuchungsgefaengnis zwingt Stiller zumSchreiben, andererseits ist es aber die Konfrontation mit der Ehefrau, Feinden,dem Verteitiger und Staatsanwalt, die auch fuer Wahrheitsermittlung notwendigist. Diese Situation ist besonders geeignet fuer die dem Ich-Roman eigeneGewissenserforschung

(vgl. Stanzel 1964: 31), fuer die Darstellung des Identitaetsproblems.

NachStanzels Romantheorie ist «Stiller» am ehesten der Kategorie der Ich-Erzaehlhaltung zuzuordnen. Bei dieserErzaehlsituationdominiert das berichtende Erzaehlen durch eineErzaehlerfigur und die Innensicht auf das Figurenbewusstsein. Unter derKategorie «Person» ist diese Erzaehlsituation immer mit einemErzaehler in der Ich-Form verbunden. Da aber auch ein auktorialer Erzaehlerdurchaus «Ich» sagen kann, muss eine Abgrenzung vorgenommen werden:In der Ich-Erzaehlsituation bezeichnet die erste Person Singular sowohl denErzaehler als auch eine Handlungsfigur, der Erzaehler und die Figur gehoerenalso dem selben Seinsbereich an.

Die Ich-Erzaehlsituation vereint mehrere, scheinbarwiderspruechliche Aspekte: zum einenscheint die «epische Distanz» vollstaendig aufgehoben zu sein, stehtder Erzaehler doch als ein Handelnder mitten im Geschehen. Zum anderen aber istdieselbe Distanz geradezu konstituierend fuer ihn, da er doch nur erzaehlenkann, was zeitlich schon vergangen ist. Wie man sieht, ist der Ich-Erzaehlereine «gespaltene Persoenlichkeit», deren eine Seite als«erlebendes Ich», die andere als «erzaehlendes Ich»bezeichnet wird. Diese Aufteilung erlaubt es ihm auf der einen Seite, sehrauthentisch und unmittelbar ueber sein Innenleben zu reflektieren. Doch istdiese Moeglichkeit zur ausgiebigen Introspektion durch ein sehr enges Blickfeld- eben nur das seine — erkauft, das erfordert, andere Figuren lediglich vonaussen zu beschreiben. Eine gewisse Naehe zur personalen Erzaehlsituation liegthier auf der Hand. Auf der anderen Seite aber erzaehlt er seine Geschichte — haeufig sein Leben oder doch wenigstens Episoden daraus — aus einem mehr oderweniger grossen zeitlichen Abstand. Das befaehigt ihn, kommentierend undwertend, zuweilen reuevoll, auf sein Leben zurueckzublicken, was seinePerspektive wiederum an die des auktorialen Erzaehlers annaehert.

Als Stiller das Gefangnis verlaesst, aendert sich mitder Situation auch die Erzaehlhaltung, ein anderer uebernimmt die Vermittlungder folgenden Ereignisse. Aber der erste Teil ist kein reiner Ich-Roman. Es istnicht so, wie es Walter Jens als eine Moeglichkeit beschrieben hat, von der derAutor keinen Gebrauch gemacht hat: «AnatolStiller sitzt an seinem Zellen-Tisch, haelt Rueckschau und konfrontiert dieBegebenheiten von heute — Ausgang und Gefaengnisbesuche — mit den Ereignissenvon gestern» (Jens 1971: 17). Der, der die Aufzeichnungenniederschreibt, behauptet ja gerade, nicht Anatol Stiller zu sein. Wenn er ich schreibt, so meint er nicht Stiller,sondern den Untersuchungsgefangenen White. Diesem hat der Verteidiger ein Heftgegeben, in dem er sein Leben aufschreiben soll, wohl um zu beweisen, dass ich eines habe [...], wie er ironisch anmerkt. (Frisch 1992: 9)

 An Stelle einesLebensberichtes verfasst er jedoch ein Tagebuch, das neben seinen Erlebnissenim Gefaengnis und einigen wenig glaubhaften Geschichten aus Amerika nichtsueber sein frueheres Leben enthaelt, was in Ich-Form berichtet wuerde. DasTagebuch-Ich erweist sich als ein Ich ohne Geschichte.

«DasIch vermag sich offenbar allein als ein gegenwaertiges zu dokumentieren» (Steinmetz 1973: 36), denn es existiert — genau genommen — erst seit zwei Jahren, seitdem Selbstmordversuch. Eine Geschichte hat nur der verschollene Stilleraufzuweisen, ueber den aber gerade nicht in der ersten, sondern stets in derdritten Person berichtet wird, der also bis zum 7. Heft hin nie alsIch-Erzaehler in Erscheinung tritt.

 «Das Ich wird ein Objekt», wieDuerrenmattsagt(Duerrenmatt1971: 12), es wird von aussen, in der dritten Person, beschrieben, so wie dieanderen es sehen. Es vermittelt dem Leser das Bild Stillers in den Augen der an­deren,jenes Bild, vor dem er gerade geflohen ist.

 DieErzaehlhaltung ist also doppelt gebrochen, einmal wird vom Roman-Ich in derdritten Person gesprochen, andererseits werden diese Er-Berichte wiederum durchden Ich-Erzaehler vermittelt, der mit der dargestellten Person identisch ist.Die Spannung zwischen erzaehlendem und erlebendem Ich, die einen Reiz desIch-Romans ausmacht, wird hier noch gesteigert. Der Ich-Er­zaehler bringt sichdem Leser immer wieder in Erinnerung; obwohl er beteuert: «Ich will aber versuchen, in diesen Heften nichts anderes zu tunals zu protokollieren, was Frau Julika Stiller-Tschudy [...] mir oder meinemVerteidiger von ihrer Ehe selber erzaehlt hat» (Frisch 1992: 90), schimmert seine innere Beteiligung anden Vorgaengen von Anfang an durch.

Da gibt es einmal neutrale Einfuegungen wie ich protokolliere [...], scheint es [...],offenbar [...], so sagt er [...], so meint mein Staatsanwalt [...], so sagtSibylle usw., die den Redefluss nur kurz unterbrechen. Daneben stehenscheinbar distanzierende Kommentare wie AlsFremder hat man den Eindruck (Frisch 1992: 89), es liegt mir sonst wenig daran, mit dem Verschollenen einig zu sein (Frisch1992: 100) oder Wieso ist er eigentlich sooffen zu mir? (Frisch 1992: 222).

Im zweiten Teil haben wir wiederum einenIch-Erzaehler, der aber nicht im Mittelpunkt, sondern am Rande des Geschehenssteht. Franz Stanzel nennt diese Erscheinung «Retrospektive mit Randstellung des Ich- Erzaehlers» (vgl.Stanzel: 1955). Daher wird er haeufig als neutraler, objektiver Beobachterangesehen. So betont Braun den Protokollcharakter, den diese Aufzeichnungenebenso wie Heft 2,4 und 6 trugen, und er stellt sie daher als 8. Heft den 7Heften des ersten Teiles zur Seite  (vgl.Braun 1959: 34 und 75).

Demgegenueber muss doch auf den entscheidendenUnterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil hingewiesen werden, derdarin liegt, dass der Protokollant im Tagebuch eben derjenige ist, um den esgeht, waehrend sich Rolf distanziert zu dem Geschehen verhaelt. Juergensenmeint: «Rolf stellt seine epischeDarstellung zu keiner Zeit in Frage; er bleibt der autoritaere, allwissendeErzahler».(Juergensen 1972: 76)

Ist der Staatsanwalt wirklich ein allwissender Erzahler? Hoechstens wohl insofern, als er bereits dasEnde der Geschichte — Julikas Tod kennt und von daher seinen Berichtzusammenfasst. Seine Objektivitaet ist doch fraglich. Sein Verhaeltnis zuStiller ist sicher zwiespaeltig. Von diesem wird er im Tagebuch immer als seinFreund bezeichnet; seine Freundschaft drueckt sich jedoch kaum in echtenHilfeleistungen aus. Einmal besuchen er und seine Frau das Stillersche Ehepaarim Hotel, dann vergehen anderthalb Jahre bis zu seinem ersten Besuch in Glion.Stillers Anrufe waehrend dieser Zeit, die wohl ein Zeichen seiner schwierigenSituation sind, sind Rolf laestig. Vielleicht spielt in seinem Unterbewusstseinimmer noch die Eifersucht auf den frueheren Liebhaber seiner Frau eine Rolle,was ihm ja auch einmal — bei dem gemeinsamen Spaziergang zu dritt — zuBewusstsein kommt: «In den uebrigensseltenen Augenblicken solcher Art wurde mir das Vergangene doch sehr bewusst;unsere Gegenwart zu dritt bestuerzt mich dann wie etwas Unmoegliches, zumindestUnerwartetes» (Frisch 1992: 416). Zum objektiven Berichterstattereignet sich dieser Mann gewiss nicht

Auch das Nachwort ist also aus einer subjektivenPerspektive heraus erzaehlt, was man beachten muss um die Ehe Stillers mitJulika in ihrer letzten Etappe zu beurteilen. Rolf sieht in ihm den eigentlichSchuldigen, aber was er berichtet — Julikas mangelnde Anerkennung fuer ihrenMann, ihr Verschweigen der bevorstehenden Operation, schliesslich die Tatsache,dass sie allein ins Krankenhaus geht — widerlegt eigentlich das, was er sagt.Wir wissen nicht, was in Julika vorgeht, denn es gibt in diesem Buch keinenallwissenden Erzaehler, der ins Innere seiner Romanfiguren sehen kann. Diedurchgehende Perspektivierung des gesamten Romans zeigt jede Figur entweder so,wie sie sich selbst sieht, oder als Bildnisin den Augen der anderen, niemals aber losgeloest aus ihrerzwischenmenschlichen Verflechtung. Nicht epische Totalitaet, sondernPerspektivierung und Medialisierung sind die Kennzeichen dieser Erzaehlhaltung.

Schlussfolgerung

Im ersten Kapitel der vorliegenden Forschungsarbeithaben wir uns mit folgenden Themen auseinandergesetzt und sind zu denSchluessen gekommen:

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Diezentralle Stellung in Frischs Werken nehmen Identitaetsfrage undBildnisproblematik ein. Die Titelgestalt vom Roman «Stiller» willauch mit sich selbst nicht identisch sein, er fuehlt sich als Versager undflieht nach Amerika.

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Waehrendder Untersuchung der strukturellen Besonderheiten haben wir festgestellt, dassFrischs Einstellung zum Schreibprozess, seine Wahl der Architektonik und Formdes Romans die strukturelle Offenheit moeglich macht. Das bedeutet, dass derAutor dem Leser seine Meinung nicht aufzwingt und der Leser dementsprechenueber verschiedene Interpretationsmoeglichkeiten verfuegt.

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Derkomplizierte Aufbau des Romans widerspiegelt seine Problematik. Man kann zweiHandlungsstraenge verfolgen, die White- und Stillerhandlung, die am Endezusammenfuehren, denn die Doppelidentitaet Stiller/White wird zu einer Einheit.

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DieForm und Funktion des Tagebuches ist im Roman mit der Erzaehlsituation engverbunden, weil die Erzaehlsituation durch Stillers Aufenthalt im Gefaengnisbestimmt ist. In der Analyse wird Ich- Erzaehlsituation und ihre Besonderheitenvom Standpunkt der Erzaehltheorie von Stanzel untersucht. Der Autor waehlt dieIch-Erzaehlsituation, weil er innerliche Welt der Titelgestalt aus subjektiverSicht betrachten will. In dieser Form wird der Leser fast automatisch einTeil des Buches, da er sich durch die gewählte Erzählperspektive indie Rolle Stillers hineinversetzen muß.<span Times New Roman",«serif»;mso-fareast-font-family:«Times New Roman»; color:black;mso-ansi-language:EN-US;mso-fareast-language:RU;mso-bidi-language: AR-SA">

II.<span Times New Roman"">             

Zusammenspielder Realitaeten

Der komplizierte Aufbau desRomans, die von Max Frisch gewaehlte Form des Tagebuchs und als Folge dieoffene Struktur des Romans haben dazu gefuehrt, dass der Text nicht homogaenist. Im Rahmen der fiktionalen Wirklichkeit des Romans koennen verschiedeneSchichten der inneren Realitaet ausgesondert werden. Die Mehrschichtigkeitkommt dann zum Ausdruck, wenn der Leser mit Perspektivierungen der Erzaehlungund verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit konfrontiert wird.  Das sind:

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Stillers Einreise in die Schweiz einerseits undNachwort des Staatsanwalts andererseits.

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Die Knobel erzaehlten Geschichten

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Parabolische Geschichten

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Traeume

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit,uns mit dem komplizierten Problem der textwirklichkeit auseinanderzusetzen undauf verschiedene Ebenen der Textwirklichkeit im Roman praezieser einzugehen.

1.<span Times New Roman"">    

Der Begriff der Textwirklichkeit. Fiktionalitaet undVirtualitaet im literarischen Text

Unter der fiktionalenWirklichkeit ist nicht die Nachahmung der objektiven Wirklichkeit zu verstehen,sondern eine besondere Wirklichkeit, die sich im Rahmen eines Textes realisiertund existiert. Die fiktionale Wirklichkeit ist die innere Wirklichkeit einesfiktionalen, das heisst eines literarischen Textes, die in diesem Text unddurch diesen Text existiert und ueber eigene Gesetzmaessigkeiten verfuegt.

Die Textwirklichkeit einesTextes stellt in sich keine Ganzheit dar, dementsprechend kann man einenliterarischen Text mit einer Konstruktion, die aus vielen «Kaestchen»besteht, vergleichen. Paduceva bezeichnete diese kleinen «Kaestchen»als «Fiktion zweiten Grades», oder «Fiktion in der Fiktion»(Padučeva 1996: 388). In der Struktur eines fiktionalen Textes koennenFragmente abgesondert werden, die ueber eine besondere Position im Vergleichzur Hauptlinie des Erzaehlens verfuegen. Es handelt sich dabei um autonomeTextteile wie Traum, Tagtraum, erlebte Rede, Luege, Erzaehlung in derErzaehlung und aehnliche Erscheinungen, die in das Textganze eingeflochtensind. Einzelne Textpassagen wie Rede, Wechselrede, Landschaftsschilderungenoder Sujetereignisse weisen auf diese fiktionale Wirklichkeit hin, sind also imRahmen des fiktionalen Systems des Textes verifizierbar.

«Und dann kam die Lava, langsam, aberunaufhaltsam, in der Luft erkaltend und erstarrend, ein schwarzer Brei mitWirbeln von weisslichem Dampf; nur in der Nacht sah man noch die innere Glut indiesem steinernen Brei, der naeher und naeher kam, haushoch, naeher und naeher:zehn Meter im Tag». (Frisch, M.1992: 47)

Anders Traeume und Luegen:«Im Fall einer erdachten Welt sind Objekte und Situationen in dererdachten Textwelt Referenten der sprachlichen Aeusserungen» (Paduceva1996: 244). Diese Fragmente im Rahmen eines fiktionalen Textes sind  'Eigentum' und 'Produkt' des Bewusstseins derTextfiguren und somit im referenziellen System der Textwelt nichtverifizierbar. Sie verfuegen meistens ueber einen besonderen Status und lassensich durch inhaltliche und sprachliche Signale aus dem Textganzen aussondern.

«Von Julika getraeumt- wieder fast das gleiche:sie sitzt in einem Boulevard-Cafe unter vielen Leuten und versucht, mir zuschreiben, den Bleistift in den Lippen wie ein Schulmaedchen in Not, ich willauf sie zugehen, bin aber von drei fremden (deutschen) Soldaten verhaftet,weiss, dass Julika mich verraten hat. Unsere Blicke treffen sich.» (Frisch 1992:333)

Diese Textkonstruktion,naehmlich «Erzaehlung in der Erzaehlung», oder mit anderen Worten«Text im Text», spitzt in erster Linie das Moment des Spieles im Textzu. Gleichzeitig wird die Rolle der Textgrenzen unterstrichen, sowohl deraeusseren, die den Text von dem 'Nicht-Text' trennen, als auch der inneren, dieTextteile mit verschiedenen Coden aussondern.

Das Zusammenspiel verschiedenerTextschichten kommt nicht nur dadurch zum Ausdruck, weil die Elemente des'Nicht- Textes' in einer Perspektive in den Text eingeschlossen, in eineranderen aus dem Text ausgeschlossen sind, sondern auch dadurch, dass in beidenFaellen ihr Relativitaetsgrad sich von dem des Haupttextes unterscheidet.

Der Zeichencharakter von allemKuenstlerischen ist dual schon seiner Natur nach. Einerseits fungiert der Textals eines der Elemente der realen Welt, das sein eigenes Dasein hat.Andererseits aber ist der Text die Kreatur des Autors. Gerade in dieserDualitaet entsteht «das Zusammenspiel auf dem semantischen Feld'Wirklichkeit- Fiktion' » (Lotman 1992: 72).

Nach W. P. Rudnev ist dieKonstruktion «Text im Text» nicht nur literarische, sondern auchkuenstlerische Erscheinung. Als Beispiel fuehrt der Wissenschaftler dieEinfuehrung von Dokumentarbildern in einen Film, oder den mehrschichtigenSujetaufbau an.

J. M. Levin zum Beispieluntersucht solche literarischen Griffe, wie Vermischung von Traum und Wirklichkeit,Motive der Doppelgaenger, mit deren Hilfe der Autor einen mehrschichtigenSujetaufbau erzielt. In diesen Konstruktionen bildet das Fabulieren dieOberflaeche und dient der Entstehung des Haupthemas. Das Haupthema basiertvorwiegend auf formellen Elementen- auf den Strukturen wie «Text imText» mit den gebrochenen Kompositionsrahmen, wo die Grenzen zwischenRealitaeten verzerrt sind. (vgl. Levin 1981: 55-58)

Indem Autor seine Figurenetwas traeumen, erfinden, luegen oder erzaehlen laesst, wird der Prozess des Erfindens selbst expliziert. Lotman (1981)hat diese «Kaestchenkonstruktion» eines Textes mit dem Spiegelmotivin der Malerei verglichen.

«Fuer die Bezeichnung dieses Textphaenomensscheint der Terminus „virtuell“ geeignet zu sein. […] Die Wirklichkeit,die sich im Bewusstsein der Figuren eines literarischen Textes konstituiert,kann als „virtuelle Wirklichkeit“ bezeichnet werden». (Čelikova 1998: 224)

Virtuelle Fragmente im Texthelfen oft das Verborgene ans Licht zu bringen, das heisst, sie sind Schluesselzur Intention des Autors. 'Das Zusammenspiel der Realitaeten' im Rahmen einerfiktionalen Welt ist einer der verbreitesten Griffe der modernen Literatur.Dieses Zusammenspiel basiert auf den Wechselbeziehungen zwischen derfiktionalen und virtuellen Wirklichkeit. Diese zwei Welten koennen sowohlvoneinander abhaengig sein und einander ergaenzen, als auch einanderverschlingen. Manchmal dringt das virtuelle Fragment in die Struktur desErzaehlens ein und ersetzt sie.

Lotman bezeichnete diese«virtuelle Wirklichkeit» als «doppelter Code». In diesemZusammenhang behauptete er, dass diese Erscheinung dazu fuehrt, dass derHauptraum des Textes, das heisst seine fiktionale Wirklichkeit, als 'real'empfunden wird. Daraus folgt, dass der Hauptext als 'real' und virtuelleAbschnitte darin als 'fiktional' fungieren. Nachstehend sprechen wir von demZusammenspiel der Textrealitaeten, das auf gegenueberstellung«Wirklichkeit- Fiktion» basiert.

Man kann das mit Recht mit derOpposition"Vorhandenes-Moegliches"vergleichen. In dieser Hinsicht ist RolfKieser zuzustimmen, der gerade die durch das Tagebuch forcierte «Konfrontation von Dokumentation undreiner Fiktion, der beiden Zeitbegriffe der linearen Chronologie und derdiachronischen Vergaengnis, der Oeffentlichkeitund des Individuums, des objektiv erfassbaren Geschehnisses und der subjektiverlebten Erfahrung, der Ich- und der Er-Position»als Wegsieht, das eigene Wesen [...] indialektischer Befragung zu ertasten."(Kieser1978: 126,) Es ist keine Konkurrenz, sondern ein notwendiges sichErgaenzen. Auch wenn «das Faktum nurgeringen Wert [hat], da sich das Ich in ihm nicht angemessen ausdrueckenkann,»(edg.: 132)so ist derBericht, das Protokoll u.ae. von Bedeutung, weil die Umwelt des Ichwiderspiegelt wird.

Die Analyse von diesenKonzepten gibt uns die Moeglichkeit zur Untersuchung des Aufbaus des Romans vomStandpunkt seiner inneren Realitaeten aus zu uebergehen.

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2.<span Times New Roman"">    

Mehrschichtigkeit der Textwirklichkeit in«Stiller»

Der Roman «Stiller»weist eine aehnliche «Kaestchenstruktur» auf. Das vollzieht sicherstens auf verschiedenen Ebenen der Textwirklichkeit und zweitens traegt dieperspektivierte Erzaehlweise dazu bei.

Im Rahmen des vorliegendenForschungsthemas werden drei Ebenen der fiktionalen Textwirklichkeituntersucht, weil sie als Elemente des Zusammenspiels der Realitaeten fungieren.Die Mehrschichtigkeit kommt in «Stiller» in solchen Textfragmentenwie amerikanische Geschichten, die Knobel erzaehlt werden, parabolischenGeschichten und Traeumen zum Ausdruck.

Frisch will die Wirklichkeit nicht nur in Fakten suchen,sondern gleichwertig in Fiktionen.Indem der Tagebuchschreiber Fiktionenwaehltund damit spielt, um sichauszudruecken, indem er Geschichten erzaehlt, also moegliche Beispiele gibt,fuer das, waser erlebt hat, laeuft ernicht Gefahr, sich selbst im Bildnis festzulegen.

DieNotwendigkeit sich mitzuteilen, kommt in«Stiller» dann zum Ausdruck, wo der Gefangene dem Waerter KnobelGeschichten erzaehlt.

Diese Geschichten sind Beispiele fuerdas obenerwaehnte Phaenomen «Text im Text» und tragen zur innerenMehrschichtigkeit des Textganzen bei.

Der Gefangene nennt das Rekonstruierenvon Stillers Lebensgeschichte «Protokollieren» (der schweizerischeText). Damit will er zweifellos seine Objektivitaet betonen und beweisen, dasser nichts mit «Erinnerung» zu tun hat. Neben der LebensgeschichteStillers spielt auch die Lebensgeschichte des Gefangenen Mr. White eine Rolle(der amerikanische Text), oder besser zu sagen sein Leben; denn er hat keineLebensgeschichte, keine Vergangenheit, sein Leben besteht eigentlich nur ausden Geschichten, die er dem interessierten Waerter Knobel zum besten gibt. Erunterscheidet dabei zwei Arten der Geschichten: einmal die Erzaehlungen von«Tatsachen», zum anderen jene Geschichten, die der Gefangene als«wahre Geschichten» bezeichnet. Diese Geschichten haben fuer denGefangenen eine tiefere, symbolische Bedeutung. Nicht die aeussere, mit Fotosbelegte Wahrheit ist fuer ihn wichtig, sondern innere, psychische Realitaet.Gerade im Fabulieren, im Erfinden von Geschichten, umschreibt der Erzaehlersich selbst, ohne sich selbst aber zu kennen. Nachtraeglich erst kann er sichim Erfundenen selbst finden. Fuer Stiller wird schreiben in erster Linie zurStrategie bei der Erforschung seines Ich. Es ist der Raum zum fabulieren. Durchseinen Vergleich des Schreibprozesses mit einer sich haeutenden Schlange, wirddies besonders deutlich: «Man kannsich nicht niederschreiben, man kann sich nur häuten» (Frisch 1992:330). Das Geschriebene, wird wiedie abgelegte Haut der Schlange, zum Abfallprodukt des Selbstfindungsprozesses.

Fuer Stiller sind die Geschichtendeshalb nicht nur der Ausdruck der eigenen Wirklichkeit, sondern zugleich dieMoeglichkeit, sie (die Wirklichkeit) zu erkennen.

Die Aufzeichnungen sind eineAuseinandersetzung mit Stiller, der er nicht sein will. In diesenAufzeichnungen versucht der Gefangene die Lebensgeschichte Stillers zurekonstruiren.

Auch in der psychoanalytischenTherapie wird die Lebensgeschichte eines Menschen rekonstruiert. Freud sprichtdabei vom «rueckschreitendenCharakter der Analyse» und beschreibt diese psychoanalytische Technikals Mittel, um «Verborgenes ansLicht zu ziehen». (Freud 1910: 112) Diese Aufzeichnungen kann man mitder Arbeit des Psychoanalyse vergleichen: die Handlung des Romans besteht innichts anderem, als in der allmaehlichen Enthuellung, dass Mr. White wenigstensaeusserlich der verschollene Stiller ist.

Auf die Motivstruktur dieser Geschichten, vor allem aber aufdie Verflechtung von Fakten und Fiktionen darin moechte ich extra eingehen.

2.1<span Times New Roman""> 

ErzaehlteGeschichten

Eine der Knobel erzaehltenGeschichten ist die Geschichte mit der «kleinenMulattin». (Frisch 1992: 50) White beschreibt eine seiner Heldentatenam Rio Grande mit ausgepraegter Wahrhaftigkeit.

"[…]wir hockten gerade am unser Feuer, denn die Abende in der Wueste sindbitterkalt, natuerlich gab es weit und breit kein Holz, wir verbranntenPutzfaeden, was mehr Gestank, als Waerme gibt, und besprachen mit denSchmugglern, wie sie uns in der Nacht ueber die Grenze schmuggelnkoennten[…]." (Frisch1992: 51)

Ploetzlich taucht der Mann von derentfuehrten Mullatin, der eindeutig kriegerisch gestimmt ist, in einerLimousine auf. Und wie schon erwaehnt war, erschiesst White den letzten «auf der Stelle». (Frisch1992: 52)

Der eigentliche Sinn der Geschichtelaesst sich erst dann verstehen, wenn sie mit der realen Geschichte verglichenwird. Die wahre Geschichte geraet auf die Oberflaeche viel spaeter und wirdnicht mehr dem interessierten Waerter erzaehlt, sondern gehoert den uebrigenGefaengnis- Aufzeichnungen an.

«Ichschwoere: es gibt eine Mulattin namens Florence, Tochter eines Dockarbeiters,ich habe sie taeglich gesehen und einige Male mit ihr geplaudert ueber einenallerdings sehr trennenden, aus alten Teertonnen ververtigten und vonBrombeeren umwucherten Zaun hinweg. Es gibt sie, dieseFlorence mitdem gazellenhaften Gang. Ich traeume von ihr, gewiss, die wildestenTraeume.» (Frisch 1992: 187)

Die «kleine Mulattin» ausder White- Geschichte bekommt nun einen tastbaren realen Umriss und einenNamen. Damit aber kommt ein Signal der Umschaltung der Realitaeten zumAusdruck. In der ersten Geschichte geht White als Frauenheld zu Werke: "«Ich mag die Neger», sageich, «aber ich vertrage keine verheirateten Maenner, auch wenn es Negersind. Immer mit Ruecksicht, das liegt mir nicht! Natuerlich fuhren wir sofortueber die

Grenze.»"(Frisch 1992: 52)

In der Wirklichkeit aber kommt anStelle Whites Stiller, von einem Schuerzenjaeger keine Spur. Davon zeugt eineEpisode im Bar.

"Man weiss, wie Neger tanzen. Ihr Partner war gerade ein halbdunklerUS-Army-Sergeant. […]. Ein grosser Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen,mit zwei Beinen aus Gummi und mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust […], einKerl, der den Brustkorb und die Schultern eines Michelangelo- Sklaven hatte,der konnte nicht mehr; Florence tanzte allein. Ich haette jetzt einspringenkoennen. Wenn ich gekonnt haette." (Frisch 1992: 188)

"[…]sie sah mich, sagte: Hallo! Nice to see you! Und es troestete mich fast ueberdas Bitterschoene meiner Verwirrung; denn ich wusste sehr wohl, dass ich diesemMaedchen nie genuegen koennte." (Frisch 1992: 189)

Mr. White ist in den Geschichten mitallen Attributen eines Machos ausgeruestet: er verhandelt mit den Schmugglernin der Nacht, erschiesst den Rivalen auf der Stelle. In Wirklichkeit erweistsich eher Joe als richtiger Macho: «Eingrosser Kerl mit den schmalen Hueften eines Loewen, mit zwei Beinen aus Gummiund mit dem halbgeoeffneten Mund der Lust […]». Stiller dagegen istwiederum ein Versager «wenn ichgekonnt haette».

Und dann eine weitere Parallele, diediese Kluft zwischen White's erwuenschten «Macho-Welt» und StillersVerwirrung gegenueber Frauen verdeutlicht: in der Macho- Geschichte erschiesstder kaltblutige White den betrogenen Joe. In Wirklichkeit aber ist es Stiller,der zu kurze kommt.

«DerUSA-Army-Sergeant stand auch so herum. […]. Dann aber, endlich, kam meineherrliche Florence hinzu, gab mir ein Glas Bowle und sagte: „This is Joe,my husband.“ Ich gratulierte.» (Frisch 1992: 191)

Der wilde Westen, das exotischeMexiko dienen als Kulissen einer phantasierten, abenteurlichen Freiheit, diesich Stiller, Realitaeten tauschend, nehmen will. Zum Symbol dieses durch keineFessel zu bindenden Ausbruchs wird im Roman die Beschreibung des VulkansParicutin in Mexiko.

«Mittenaus der Finsternis von toten Schlacken, die der Mond bescheint, ohne ihreSchwaerze tilgen zu koennen, schiesst sie hervor wie hellichter Purpur,stossweise wie das Blut aus einem schwarzen Stier. Sie muss sehr duenn undfluessig sein, diese Lava, fast blitzhaft schiesst sie ueber den Berg hinunter,langsam an Helle verlierend, bis der naechste Ausguss kommt, Glut wie aus demHochofen, lauchtend wie die Sonne, die Nacht erluechtend mit der toedlichenHitze, der wir alles Leben verdanken, mit dem Innersten unseres Gehirns. Dasmuessten Sie sehen! In unserer Seele, ich erinnere mich sehr genau, erwacht einJubel; wie er sich bloss im Tanz entspannen koennte, im wildesten allerTaenze,ein Ueberschwang von Entsetzen und En

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